


DIE 727 TAGE OHNE KARAMO
von Karin SchieferDie erste Einstellung bringt das Wesentliche auf den Punkt. Im hellen Frühherbstwald verbringt ein Paar seinen Nachmittag. Beide sind leuchtend gelb gekleidet, die Frau sitzt etwas gelangweilt wartend auf einer Bank, während ihr Mann mit Overall und Fliegermütze bekleidet, mit einer surrenden Fernsteuerung ein bizarres Flugobjekt, auf- und ab und an Hindernissen vorbeinavigiert. Man wähnt sich als Zuschauer im Reich der Fiktion, am Beginn einer Erzählung die sich einem gewitzten, etwas absurd-skurrilen Grundton verschrieben hat. Dieses erste Bild ist allerdings nur einer der für Anja Salomowitz' dokumentarisches Arbeiten typischen Kunstgriffe, Form und Inhalt subtil ineinander zu verzahnen. Was man in den folgenden neunzig Minuten zu hören bekommt, ist in der Tat unglaublich, unfassbar und manchmal absurd. Doch so unwirklich die Schilderungen der ProtagonistInnen auch klingen mögen, es ist nichts davon erfunden. Der Film greift die Erfahrungen von Österreichern und Österreicherinnen auf, die sich in jemanden verliebt haben, dessen Reisepass in einem Staat außerhalb der EU-Grenzen ausgestellt worden ist. Sie versuchen ihre Beziehung in Form einer Ehe zu legalisieren und begegnen den Behörden: Gefühle treffen auf Reglementierungen, das Herz kollidiert mit dem Gesetz, die Schwierigkeiten nehmen ihren Lauf.
Dokumentarisches Erzählen steht bei Anja Salomonowitz immer vor einem doppelten Anspruch: ihr Erzählstil zielt zum einen darauf ab, gesellschaftspolitisch relevante Verhältnisse aufzugreifen und für unhaltbare Zustände zu sensibilisieren, gleichzeitig geht es auch darum, die Sicht auf ein Thema durch ungewohnte Erzählstrategien zu erneuern, zu erweitern oder zu variieren. In Die 727 Tage ohne Karamo hat die Filmemacherin ihr schon bei Kurz davor ist es passiert entwickeltes Grundkonzept, Dokumentarfilme "anders" zu erzählen, weiter verfeinert. Das aus der Realität geschöpfte Material und sein emotionales Potenzial werden dabei in ein konstantes Spannungsverhältnis zueinander gesetzt.
Die lange Finanzierungsphase dieses Projekts hatte die Filmemacherin genutzt, um mit unzähligen binationalen Paaren Gespräche zu führen. Was sich dabei herauskristallisierte, war weniger ein buntes Spektrum an unterschiedlichsten romantischen Szenarien, sondern Parallelen und Gemeinsamkeiten, die sich durch Paarbeziehungen aus verschiedensten Einkommensschichten, Altersgruppen oder geografischen Konstellationen zogen: Kennenlernen, der Wunsch zu heiraten, die Hindernisse, die sich auftun und schließlich oft das Scheitern an einer zermürbenden administrativen Prozedur. So als würde der größte gemeinsame Nenner dieser Einzelschicksale ein unter den gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen beinahe unvermeidliches Grundmuster des Beziehungsverlaufs vorgeben. In Die 727 Tage ohne Karamo wachsen die Einzelschicksale der Protagonisten zu einer übergeordneten Liebesgeschichte zusammen, die kollektiv erzählt wird. Keine Einzelgeschichte erfahren wir bis zum Ende, jeder der rund 20 vor der Kamera interviewten Partner liefert nur ein Bruchstück zum Gesamtbild, das voller Fragmentierungen ist, die auch auf die Brüche im Leben dieser Menschen verweisen. Anja Salomonowitz lässt im On und Off der Kamera erzählen, manchmal im Gesprächs-, manchmal im Flüsterton, manchmal filmt sie die Menschen zu Hause, manchmal am Arbeitsplatz. Ihre Gesten und Tätigkeiten haben dabei nichts mit dem Inhalt des Gesagten zu tun, ob im On oder Off erzählt wird, kann auch innerhalb eines Statements variieren. Jedes Portrait folgt einem Prinzip der Brechungen und Zersplitterungen. Die Bruchlinie ist der rote Faden in dieser Komposition für Chor mit Solisten. Das schafft Distanz und bewahrt Betroffene wie Betrachter vor zuviel Emotion. Anja Salomonowitz verweigert beiden Seiten ein Mitleidskino, Die 727 Tage ohne Karamo will vor allem von Menschen erzählen, die für einen anderen Menschen kämpfen und die auf ihrem Recht bestehen, ihren Partner frei zu wählen. Daher hat die Filmemacherin auch (wie bereits in den Filmen zuvor) eine dominante Farbe in ihren Bildern gewählt: Gelb. Für Lebensmut und Kampfgeist, und für den Trotz.